Spielen ohne Schiedsrichter – funktioniert das wirklich?

Wenn man mal drüber nachdenkt, ist Ultimate Frisbee eine enorm herausfordernde Sportart. Sie fordert einen nicht nur athletisch und taktisch, zusätzlich muss man die Regeln kennen, diese anwenden und Regelverletzungen anzeigen. Dies alles findet idealerweise im Sinne des „Spirit of the Game“ statt, also fair, friedlich und mit Empathie und Rücksicht für den Gegenspieler und die Gegenspielerin.

Können Kinder das überhaupt? Kann man soetwas von ihnen verlangen? Oder ist es nicht doch besser, sie die ersten Jahre mit Schiedsrichter spielen zu lassen?

Die Frage stellt sich noch mehr für den Irak: Können Kinder und Jugendliche, die vor Krieg und Gewalt geflohen sind und diese auch weiterhin vielfältig erleben, an einer Frisbee-Liga ohne Schiedsrichter teilnehmen?

Anfängliche Skepsis

Als ich die Trainings vor drei Jahren begonnen habe, waren die Vorbehalte und Einwände groß: „Ohne Schiedsrichter? Ich denke, es ist besser, wenn wir Schiedsrichter sind“, hat z.B. einer meiner Übersetzer und Co-Trainer zu Beginn gesagt.

Und auch viele Kinder meinten während der ersten Trainings: „Benni, sei doch der Schiedsrichter, dann spielen die anderen fair.“

Aber auch aus Deutschland gab’s viel Skepsis: „Wir finden es schon herausfordernd, hier die Kinder ohne Schiedsrichter spielen zu lassen. Wie soll das erst im Irak funktionieren?“

Auf unseren Frisbees sind die Prinzipien des „Spirit of the Game“ abgedruckt.

Hierarchische Gesellschaftsordnung

Für den Nordirak ergibt sich zusätzlich eine kulturelle Herausforderung: Die kurdische und jesidische Gesellschaft ist extrem hierarchisch organisiert – ganz im Gegensatz zu der westlichen, die sehr egalitär und demokratisch geprägt ist. Noch heute ist das Land stark durch Stammesstrukturen geordnet. Dies zeigt sich bis auf die Ebene der Kinder und Jugendlichen: Sie fordern geradezu Leiterschaft ein und sind viel folgsamer, wenn es klare und von allen akzeptierte Leiterschaft gibt.

Damit lässt sich die immer wiederkehrende Handlung während der ersten Trainingseinheiten erklären: Die Kids rufen „Foul“, heben ihre Hand, blicken zu mir und erklären mir aufgebracht, was passiert ist. Ich sage ihnen dann immer: „Ich bin hier nicht der Schiedsrichter, ihr alle seid Schiedsrichter. Erkläre deinem Gegenspieler, was deiner Meinung nach passiert ist.“

Das ist für jene, die es in Gruppen gewohnt sind, das Wort zu ergreifen und eine Leiterrolle einzunehmen, einfacher umzusetzen, als für jene, die sich gewöhnlich zurückhalten. Gerade diese müssen aktiv dazu ermutigt werden, Fouls oder Regelverletzungen anzuzeigen und ihre Stimme zu erheben.

Bei Ultimate Frisbee ist in gewisser Weise jeder Schiedsrichter.

Es funktioniert!

Wann immer ich im Nordirak ein neues Training gestartet habe, habe ich besonders viel Zeit für diese Prinzipien aufgewendet: Sicher zu stellen, dass alle die Regeln kennen, zurückhaltendere Spieler und Spielerinnen dazu zu ermutigen, die Stimme zu erheben oder die eigene Perspektive zu teilen.

Außerdem galt es gerade zu Beginn, dominante Persönlichkeiten, die sich gerne und schnell in Diskussionen einmischen, obwohl sie keine gute Perspektive auf die Situation hatten, zu zügeln. Auch an den richtigen Stellen ruhig zu sein, bedarf Disziplin und muss gelernt sein.

Mit Hilfe dieser Maßnahmen haben wir dann nach nur wenigen Monaten die ersten Ligaspiele gestartet und erkannt: Es funktioniert. Ich erinnere mich an viele Momente, in denen ich wirklich Gänsehaut hatte, als 11- und 12-jährige Kids das erste Mal gegeneinander gespielt haben und wir uns als Trainer und Spielbeobachter nur ganz selten einmischen mussten. Für eine Stunde spielten da die Kinder, die sich vor einigen Wochen noch angeschrien hatten, friedlich, fair und Konflikte selbst lösend Frisbee.

Das ist nicht selbstverständlich, schließlich bietet das System der Selbst-Regulation auch viele Möglichkeiten, ungerecht zu handeln, um Vorteile zu erlangen. Aber das habe ich bei den Kids nur ganz selten beobachtet. Ich erkläre mit das zum einen mit einem großen Gerechtigkeitssinn, zum anderen – und das trifft wiederum besonders auf den Nordirak zu – mit Ehre und Scham: Die Kinder wollen erhobenen Hauptes den Platz verlassen und sagen können, dass sie fair und gerecht gespielt und – idealerweise – gewonnen haben. Die soziale Kontrolle unter den Kids ist enorm, jemand, der kontinuierlich unfair handelt, würde derartig gemaßregelt und verachtet werden, dass er gar nicht anders könnte, als sein Verhalten zu ändern.

Die soziale Kontrolle unter den Kids ist groß.

Oder doch nicht?

So liefen die ersten Monate erfolgreich und ich war mir immer sicherer: Es funktioniert wirklich! Auch Kinder im Irak können Ultimate Frisbee ohne Schiedsrichter spielen.

Doch dann gab es zwei große Rückschläge. Der eine ereignete sich auf Social Media. Während die Kids und Teens sich selten offen auf dem Sportplatz stritten, taten sie das zunehmend auf Instagram. Offensichtlich war die Scham zu groß, jemanden im Kreis nach dem Spiel offen und ins Gesicht zu kritisieren; auf Instagram waren die Hürden da niedriger.

Außerdem fand ich heraus, dass es Absprache bei den Spirit of the Game-Bewertungen gab. Das war nicht schwer herauszufinden: Zwei Teams aus dem selben Dorf hatten sich im Vorhinein abgesprochen, sich gegenseitig und nach ihrem gemeinsamen Ligaspiel 19 von möglichen 20 Punkten zu geben.

Für mich war das eine ziemlich große Enttäuschung, waren die Kids und Teens vielleicht doch nur „external“ motiviert, hielten sie sich also an die Vorgaben, um ihr Gesicht zu wahren und mich glücklich zu machen? Ich war immer darum bemüht, sie von den Werten und Prinzipien zu überzeugen, also einen inneren Antrieb für diese Dinge in ihnen zu wecken.

Doch solche Rückschläge gehören wohl dazu. Zusammen mit den anderen Trainern und den Kapitänen besprachen wir uns und taten das, was wir sonst auch taten: Die Kids selbst in die Verantwortung zu nehmen. Und als sie alle von den Vorfällen hörten, fanden sie wirklich gute Lösungen, die eine gute Grundlage für die weiteren Ligaspiele lieferte.

Als Christ will ich außerdem hinzufügen: Wir handeln nie selbstlos, immer eigensinnig, nie ganz fair und gerecht. Trotzdem will ich an den Prinzipien der Selbstregulation festhalten. Wenn es auch niemals den gerechten und fairen Spieler und die Spielerin geben wird, so kann uns das Spielen ohne Schiedsrichter zumindest unsere Defizite und Erlösungsbedürftigkeit aufzeigen.

Die Kapitäne tragen große Verantwortung.

Einige Tipps und Tricks

  • Traut euch! Gebt den Kindern die Verantwortung! Vertraut ihnen, sich selbst regulieren zu können! Wenn man von vornherein Spiele kontrolliert und lenkt, werden sie sich daran gewöhnen, die Verantwortung für Ungerechtigkeit und unfaires Verhalten bei den anderen und womöglich sogar den Trainern und Spielebeobachtern zu suchen.
  • Bei jüngeren Kindern ist es hilfreich, als Beobachter und Helfer dabei sein. Aber auch hier sollte nicht zu früh oder zu oft eingegriffen werden.
  • Es ist eine alte pädagogische Weisheit, aber sie ist zeitlos und auch hier wahr: Es lohnt sich, proaktiv gutes Verhalten zu loben, anstatt nur bei fehlerhaftem Verhalten einzugreifen.
  • Spirit Kapitän können eingesetzt werden, um besonders auf faires Verhalten innerhalb des eigenen und des gegnerischen Teams zu achten. Kinder und Jugendliche fühlen sich geehrt, solche Rollen übernehmen zu dürfen. Bei unseren Ligen haben wir bisher nur einen Kapitän eingesetzt, der oder die dann auch für den Spirit verantwortlich war. In Zukunft will ich aber bewusster sowohl einen Kapitän, als auch einen Spirit-Kapitän einsetzen, um diese Rolle noch mehr zu betonen.
  • Trotz Kapitän gilt: Jeder ist verantwortlich. Der Sprit-Kapitän kann als Sprachrohr für die Mannschaft dienen, trotzdem ist jeder für sein eigenes Verhalten verantwortlich.
  • Solche Prinzipien lassen sich super auf andere Aspekte des Lebens übertragen, das sollte man nicht verpassen. So ist z.B. nicht nur eine Person für die Materialien oder das Mülleinsammeln verantwortlich, sondern alle gemeinsam.

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