Das erste Ultimate-Frisbee-Match im Irak liegt mehr als drei Jahre zurück, die ersten Trainings habe ich vor dreieinhalb Jahren gestartet. Seitdem hat sich vieles getan. Immer mehr frage ich mich, wie ich alles Entstandene so ausbauen kann, dass es bleibt, dass es sogar von selber wächst.
Oder – um ein weiteres Bild zu verwenden: Im Moment fühlt es sich so an, als ob ich die Schneekugel, die mittlerweile sehr groß ist, immer noch selber anschieben muss, damit sie noch größer wird. Wie viel und was fehlt aber noch, damit sie selber rollt und gar zu einer Lawine wird?
(Für alle, die jetzt denken: Das Bild passt nicht, weil es doch gar keinen Schnee im Irak gibt… Doch! Gibt es. In den Bergen im Norden fällt im Winter viel Schnee und es kommt auch zu Lawinen 🙂 .)
Meilensteine der letzten Monate
Jugendliche werden zu Trainern
Ich setzte hauptsächlich auf Kinder- und Jugendtrainings. Mittlerweile gibt es aber eine recht große Zahl an 16 bis 18-jährigen, die vor drei Jahren das Spielen begonnen und mittlerweile sehr gute Spieler sind. Bei jedem Kindertraining hilft mir mindestens einer dieser Jugendlichen. Zusätzlich veranstalten wir immer wieder Workshops, in denen wir die Jugendlichen gezielt fortbilden.
Es macht mich extrem glücklich zu sehen, wie Jugendliche hier im Irak ihre Leidenschaft für den Sport in ihrer Freizeit an Kinder weitergeben. Im Moment kommen etwa 200 Kinder und Jugendliche wöchentlich zu Ultimate Frisbee Trainings in Dohuk und der näheren Umgebung. Meine Hoffnung ist, dass davon viele weitere zu Trainern werden, die andere ausbilden.
Etablierung eigener Ligen und Turniere
Sobald die Kinder und Jugendlichen einigermaßen Werfen konnten und die Regeln kannten, habe ich sie gegeneinander antreten lassen. So gehen unsere beiden Kinder- und Jugendligen schon in das dritte Jahr. Eine Liga ist für die 11- bis 13-jährigen, die andere für die 14- bis 16-jährigen, an beiden nehmen mittlerweile jeweils fünf Teams teil.
Die Erwachsenen-Liga war in dieser Hinsicht ein Spätstarter, das erste Jahr haben wir uns lediglich zu ein paar Freundschaftsspielen mit den Leuten aus Erbil getroffen. Mittlerweile sind aber zwei Erwachsenen-Ligen in der Region Dohuk zu Ende gegangen, eine Sommerliga und eine anschließende Winterliga. Sie finden auf kleinen Plätzen statt, wir spielen deshalb 5 gegen 5. Es haben ebenfalls jeweils fünf Teams daran teilgenommen. Es ist ein bunter Mix aus Kurden aus der Stadt Dohuk, aus Expats und aus Jugendlichen, die aus dem Alter für die Jugendliga herausgewachsen sind.

Im Oktober letzten Jahres folgte ein weiterer Meilenstein: In Erbil fand das erste Erwachsene-Turnier für Teams aus dem gesamten Nordirak statt, acht Teams aus Suleiymania, Erbil und Dohuk nahmen teil. Unsere Teams aus Dohuk landeten auf den Plätzen eins, zwei und drei, was zeigt, dass wir einfach schon länger spielen. Aber wir waren begeistert, dass auch die Ultimate-Community in den anderen Städten gedeiht.
Im März haben wir für ein Folgeturnier nach Dohuk eingeladen, diesmal nahmen 10 Teams teil. Es konnte erneut ein Team aus Dohuk gewinnen, immerhin landeten die Hewleri Lions (aus Erbil) aber auf dem dritten Platz. Und auch die Teams aus Suleiymania haben sich gut geschlagen. Nicht nur die Anzahl der Spieler, sondern auch das Niveau in der Region wächst kontinuierlich.
Teilnahme an internationalen Turnieren
Der nächste konsequente Schritt war es dann, an einem internationalen Turnier teilzunehmen. Im Mai letzten Jahres sind wir zum ersten Mal als „Duhok Ultimate“ ins Ausland gereist, nämlich nach Jordanien, um an der ersten Ausgabe des „Jordan Ultimate Cup“ teilzunehmen. Wir sind vierter geworden – und erster in der Spiritwertung!
Im November folgte unsere erste Teilnahme an der „MENA (Middle East and North Africa) Club Championship“, die diesmal in Dubai stattfand. Wir mussten unser Team mit einigen Pick-Up-Spielern auffüllen, besonders, um genügend Frauen zu haben. So landeten wir nur auf dem 19. von 20 Plätzen. Aber immerhin wurden wir Vierter in der Spiritwertung.
Herausforderungen
Flüchtlinge gehen zurück bzw. ziehen weiter
Als ich die Arbeit im Jahr 2020 angefangen habe, wusste ich, dass ich hauptsächlich mit jesidischen Binnenvertriebenen arbeiten werde, die sehr wahrscheinlich nicht dauerhaft in der Region Dohuk bleiben würden. Und so haben im Laufe der letzten Jahre tatsächlich etwa ein Drittel der regelmäßigen Trainings-Teilnehmer die Region verlassen (100 von 300) – sind sind zurück in die Region gekehrt, aus der sie 2014 vom IS vertrieben wurden, einige sind auch nach Europa geflohen oder nach Amerika bzw. Australien ausgewandert.
Und obwohl es absehbar war, es hat mich jedesmal ziemlich mitgenommen. Es tut einfach weh, einen Jugendlichen, der über die Jahre zu einem exzellenten Frisbee-Spieler herangewachsen ist und zusätzlich als Charakter und Mensch gereift ist, gehen zu sehen. Nur wenige haben das Spielen fortgesetzt, die meisten von ihnen sind in Regionen gezogen, in denen einfach noch nicht Frisbee gespielt wird.
Ich versuche, Verantwortung und die Traingsleitung auf möglichst viele Schultern zu verteilen, um solche Ausfälle kompensieren zu können. Und auf lange Sicht fände ich es auch toll, nach Shingal reisen und auch dort Trainingsgruppen aufbauen zu können – dort, wohin die meisten zurückkehren.
Expats haben das Heft in der Hand
Besonders in Dohuk sind es zwar zum allergrößten Teil Kurden und Jesiden, also Einheimische, die an den Trainings teilnehmen, die Leitung übernehmen aber trotzdem meist Ausländer. Das hat sich zum Beispiel an den beiden städteübergreifenden Turnieren gezeigt: Ich habe federführend das Turnier in Dohuk organisiert, in Erbil und Suleiymania sind Amerikaner die zentralen Leiter.
Wir haben alle den Wunsch, Einheimische mehr in Verantwortung zu nehmen, es fällt uns aber immer wieder schwer, es wirklich in die Tat umzusetzen und Verantwortungen abzugeben. Und die Einheimischen wollen im Gegenzug meist, dass wir als Ausländer die Dinge leiten, sie meinen oft: „Ihr könnt das besser.“
Besondere Hindernisse für Mädchen und Frauen
Zunächst das Positive: Mädchen und Frauen spielen bei allen Gruppen mit, kulturell ist das grundsätzlich nicht ausgeschlossen oder gar verboten – vor meiner Ausreise in den Irak war ich mir darüber gar nicht so sicher.
Allerdings fällt es uns immer wieder schwer, genügend Frauen zu finden. Und auch für die Teilnahme an dem MENA-Turnier in diesem Jahr bin ich mir nicht sicher, ob wir genügend Frauen aus dem Nordirak rekrutieren können (wir brauchen mindestens sechs).
Denn obwohl es für Frauen nicht verboten ist, Sport zu machen, ist es doch sehr ungewöhnlich. Im Falle der Teenager-Mädchen muss ich zudem immer wieder beobachten, wie die Väter von heute auf morgen die Teilnahme an den Trainings (für immer) verbietet – etwas, das bei Jungen nur selten passiert.
Ziele für die kommenden Jahre
Ein eigener Verband
Alles, was wir tun, findet im Moment im Rahmen von verschiedenen NGOs, teilweise aber auch einfach als private Trainingsgruppe statt. Es wird Zeit, dem ganzen einen offiziellen Rahmen zu geben, indem wir einen Verband gründen. Gerade dabei wollen wir möglichst stark auf die Initiative von Einheimischen setzen.
Offiziell Teil der weltweiten Frisbee-Gemeinschaft werden
Auch die WFDF (World Flying Disc Federation) hat sich schon bei uns gemeldet und vorgeschlagen, dass wir aus dem Irak Teil der internationalen Frisbee-Gemeinschaft werden. Auch den Prozess für die Anerkennung dort wollen wir bald in Angriff nehmen.

Qualität statt Quantität
Bei all dem muss ich mir selber in Erinnerung rufen, mit welcher Motivation ich da eigentlich vor dreieinhalb Jahren auf einem sandigen Feld und umgeben von Flüchtlingskindern stand, eine Plastikscheibe in die Höhe gehalten und erklärt habe: „Das ist eine Frisbee, man kann sie so werfen…“: Ich wollte den Sport dazu nutzen, um Werte wie konstruktive Kommunikation, Konfliktvermeidung etc. zu vermitteln. Eine der höchsten Auszeichnungen in dieser Hinsicht war es für mich, dass wir im letzten Jahr nach Jordanien gereist und den „Spirit of the Game“-Preis gewonnen haben. Das ist es, was letztendlich zählt!
Es ist gut, das nicht aus den Augen zu verlieren – egal, wie groß die Gemeinschaft im Irak eines Tages sein wird. Ich würde lieber 300 Leute den Sport fair und mit einer positiven Grundeinstellung spielen sehen, als 1000 unfair und nur auf das Gewinnen fokussiert.
Eine Lawine zu starten ist oft gar nicht so schwer, sie aber in die richtige Richtung zu leiten viel mehr.