Nachdem ich nun seit fast zwei Jahren im Irak leben und arbeite, haben mich schon so manche gefragt, ob eine Radreise durch den Irak denn möglich und sicher sei – immer mehr Menschen scheinen zu erwägen, ob der Irak nicht ein potentielles Reiseland ist. Da es aber noch fast keine Informationen zu Radreisen im Irak im Netz gibt, will ich mit diesem Artikel etwas Klarheit schaffen.
Achtung: Ich schreibe hier ausdrücklich als Privatperson, kann also keinen umfassenden Sicherheitslagebericht geben, sondern teile hier meine persönliche Wahrnehmung und Einschätzung. Zusätzliche Quellen wie Informationen des Auswärtigen Amtes sollten beachtet werden. Ich hoffe, dass für Interessierte so ein gutes Gesamtbild entsteht.
Kurze Antwort: JA!
Ich kann eine Radreise im Irak empfehlen. In den letzten Monaten hatte ich durch Warmshowers.org einige verwegene Radreisende zu Gast, keiner von ihnen hat die Entscheidung bereut, mit dem Rad die irakische Grenze überquert zu haben – ganz im Gegenteil!
Erste Einschränkung: Nur der Norden ist zu empfehlen
Was ich hier schreibe trifft allerdings nur auf den Nordirak, also die autonome kurdische Region zu. Hier lebe ich und bin selber oft mit dem Rad unterwegs. Der restliche Teil des Irak wird zwar auch immer mehr von westlichen Touristen entdeckt und ist seit neuestem sogar mit Visa on Arrival am Flughafen leicht zugänglich; eine Radreise ist dort aber in mehrfacher Hinsicht noch herausfordernder: Es gibt neben dem irakischen Militär viele Milizen, die unterschiedliche Teile des Landes kontrollieren. Es ist nie ganz abzusehen, ob man an Checkpoints als Radreisender durchgelassen wird. Außerdem ist die Entführungsgefahr besonders in Bagdad weiterhin relativ hoch.
Der Norden dagegen ist von der kurdischen Peschmerga kontrolliert, man kann sich relativ frei bewegen. Es gibt zwar viele Checkpoints, an denen man mit ziemlicher Sicherheit als westlicher Fahrradtourist auch kontrolliert und befragt werden wird. Meist endet eine solche Befragung allerdings mit einer Einladung zum Tee, zum Essen oder sogar zum Übernachten, mindestens aber mit einem herzlichen „Willkommen in Kurdistan!“.
Allerdings schreibt das Auswärtige Amt auf seiner Homepage: „Vermeiden Sie nicht erforderliche Reisen in die Region Kurdistan-Irak und reisen Sie nur nach Prüfung der Sicherheitslage und mit adäquaten Sicherheitsmaßnahmen.“ Ich will dieser Warnung nicht widersprechen und keinesfalls den Eindruck erwecken, dass der Nordirak ein Reiseland wie jedes andere wäre. Aber ich meine, dass eine Einreise – wie es eben das Auswärtige Amt selber schreibt – mit guter Vorbereitung und Informationsbeschaffung im Moment (Stand April 2022) verantwortbar ist.
Ein paar weitere Einschränkungen
Neben der geographische Begrenzung gibt’s ein paar Gefahren, denen man sich bewusst sein sollte: Im irakischen Boden schlafen viele Minen. Oft sind diese Minen sogar unentdeckt und unmarkiert. Eine Offroad/Gravel/MTB-Tour ist damit zwar nicht unmöglich, man sollte sich allerdings gut bei Einheimischen erkundigen, welche Strecken sicher sind.
Ganz im Norden und in den höheren Bergen kommt es regelmäßig zu Gefechten zwischen PKK-Anhängern und dem türkischen Militär. Die Orten, an denen es unruhig ist, lassen sich aber relativ klar lokalisieren und meiden.
Auch an der Grenze zwischen dem kurdischen Norden und dem Rest des Landes, besonders in der Region um die Stadt Kirkuk, ist die Sicherheitslage volatil.
Zwischen den hohen Berge im Norden und der Grenze im Süden ist der Nordirak im Moment aber stabil und gut zu bereisen.
Kriminalität gibt’s, aber überraschend wenig
Mit dem Irak verbindet man häufig Krieg und Terror. Damit wird aber meist übersehen, dass die Kriminalitätsrate sehr gering ist. Ich fühle mich im Alltag sehr sicher, zu Diebstählen und Einbrüchen kommt es sehr selten.
Ein gutes Beispiel: Letztens wurde einem meiner Radreise-Gäste nach der Weiterreise sein Handy geklaut. Das ist so etwas seltenes hier, dass bald alle davon wussten. Die Polizei konnte die beiden Täter fassen. Viele lokale Medien haben über den Fall berichtet:
Ich würde empfehlen: Haltet Euch an die üblichen Empfehlungen, zeigt Wertgegenstände nicht zu offen, haltet eure Räder im Blick – oder lasst bei Einkäufen Sicherheitspersonal, das es hier zuhauf gibt, ein Auge drauf halten. Und dann macht Euch keine allzu große Sorgen, sondern genießt die Schönheit, Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft des Landes!
Einreise unkompliziert und ohne Visum
Einreisen in den Nordirak kann man ganz unkompliziert über die Flughäfen in Erbil und Sulaimaniyya oder über den türkisch-irakischen Grenzübergang Imbrahim Khalil und den iranisch-irakischen Grenzübergang Bashmaq. Man zahlt 70 Dollar und erhält ein 30-Tage-Visum, das sogar mindestens einmal verlängert werden kann. Auch die Corona-Einschränkungen sind mittlerweile fast ganz zurückgenommen worden, man kann mit einem Impfnachweise oder einem negativen PCR-Testergebnis (Stand April 2022) einreisen und muss nicht in Quarantäne.
Radreisende sind noch Exoten – die Einheimischen dafür umso interessierter
Im Irak selber gibt’s fast keine Radfahrer. Wenn überhaupt drehen Kinder in der unmittelbaren Nachbarschaft ihre Runden auf zwei Rädern. Der Irak ist ein absolutes Autoland. Radwege gibt’s überhaupt nicht.
Umso exotischer ist man als Fernradreisender. Macht Euch darauf gefasst, Blickfang und Attraktion zu sein. Gerade auf dem Land und auf Straßen zwischen Städten werdet Ihr immer wieder zu Tee und zum Selfie-Machen eingeladen werden.
Gleichzeitig empfinde ich die Kurden im Vergleich zu anderen Menschen des Nahen und Mittleren Ostens als relativ zurückhaltend. Das ist angenehm, man wird also nicht ununterbrochen angehalten und von Interessierten umkreist, kann also durchaus auch Kilometer machen. Auch mit Steinen bin ich im Nordirak noch nie beworfen worden – was ich nach meinen Erfahrungen in Jordanien als keine Selbstverständlichkeit zu schätzen weiß.
Ein paar Routenempfehlungen
Die meisten Radreisenden reisen von der Türkei aus in den Nordirak ein, gelangen nach Zakho und fahren von dort weiter nach Dohuk. Hier ist man zu einem großen Teil gezwungen, auf der großen Hauptstraße Nummer 2 zu fahren – viel Verkehr und kein großes Vergnügen.
Ab Dohuk bieten sich allerdings viele Optionen für schöne Routen. Meine erste größere Tagestour hat mich von einem Vorort von Dohuk zu dem jesidischen Heiligtum Lalisch geführt. Diese Route kann ich sehr empfehlen – mit Ausnahme des Ausfluges in das Flusstal, wo man viel schieben muss. Falls Ihr der Route folgen wollt, bleibt auf der Straße:
Viele wollen von Dohuk zunächst in den christlichen Ort Al Qosh, in dem der Prophet Nahum begraben liegt und an dessen Rand es ein altes Kloster zu besichtigen gibt. Von Dohuk aus gelangt man auf relativ ruhigen Straßen nach Al Qosh. (Leider lässt einen Komoot nicht die Hauptstraße für die Routenplanung auswählen. Deren Nutzung ist aber notwendig, um aus der Stadt rauszukommen – und auch ohne Probleme möglich).
Von Dohuk nach Erbil sollte man auf keinen Fall dem kürzesten Weg folgen, dieser führt über die große Hauptstraße. Die ist zum großen Teil zwar ganz neu, aber viel befahren, die Landschaft relativ langweilig. Stattdessen sollte man den längeren Weg und die weniger befahrene Straße wählen, die über Amediye und Barzan und durch die Berge führt. Und bevor man nach Erbil fährt, sollte man unbedingt noch einen Abstecher ins schöne Soran und noch schönere Rawanduz machen. (Vertraut dieser Route bitte nicht im Detail, ich bin sie selber nicht abgefahren, sondern habe sie nur grob auf Komoot markiert:)