Lehren nach sechs Monaten Ultimate-Frisbee-Ligabetrieb

Ich bin nun seit eineinhalb Jahren im Irak, im Herbst letzten Jahres haben wir eine Ultimate-Frisbee-Liga mit unseren Kinder- und Jugendteams gestartet. Es wird Zeit, ein erstes Fazit zu ziehen.

Immense Freude und Einsatz

Alle Kinder und Teenager, die an der Liga teilnehmen, sind mit riesigem Einsatz und Euphorie dabei. Gerade für die jesidischen Flüchtlinge ist solch ein Ligaspiel ein Höhepunkt, auf den sie wochenlang hinfiebern.

In einem Dorf, in dem ausschließlich jesidische Flüchtlinge wohnen, sind mittlerweile mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen zwischen 11 und 14 Jahren Teil unserer Trainings. Zu einem „Heimspiel“ sind sie alle da und unterstützen ihre Mannschaft. Besonders die älteren Jugendlichen übernehmen dabei Verantwortung und coachen die jüngeren.

Letztens habe ich mit einem unserer Spieler, der im Herbst eigentlich über Weißrussland nach Deutschland fliehen wollte, ein längeres Gespräch geführt. Dabei hat er mir gesagt, dass ihn seine Familie weiterhin nach Europa schicken will, er aber eigentlich nicht gehen will – wegen Ultimate. Ich will nicht naiv sein, ich weiß, dass unsere Sportprojekte kaum dafür sorgen, dass Menschen im Irak bleiben. Trotzdem bin ich dankbar, dass ich Teil einer Arbeit sein darf, die mit solcher Begeisterung angenommen wird und einen enormen Einfluss auf das Leben vieler Menschen hat.

bei einem Ligaspiel ist das ganze Dorf beratend dabei

Das Spirit of the Game-Wertungssystem funktioniert – zumindest teilweise

Wie bei den Trainings geht es uns auch bei den Ligaspielen nicht alleine um den Sport, sondern zusätzlich um die Förderung des Sozialverhaltens. Wir lassen die Kids deshalb ohne Schiedsrichter gegeneinander spielen. Und es funktioniert! Wenn Gäste zu den Ligaspielen kommen, sind sie immer ganz beeindruckt, wie da ein Horde Jugendlicher friedlich einen Wettkampf bestreitet.

wir greifen möglichst selten ein

Nach dem Spiel müssen sie dem gegnerischen Team in fünf Kategorien Punkte für ihr Sozialverhalten geben. Normalerweise wartet man damit recht lange und nutzt für Kinder oft auch ein vereinfachtes Wertungssystem mit weniger Kategorien. Es ist schließlich einige Kompetenz notwendig, um den Gegner in solch differenzierter Weise zu bewerten. Wir wollten aber trotzdem von Beginn an und auch mit den jüngeren Kindern das normale System nutzen.

Die sechs Monate haben gezeigt, dass die Kids zu sehr extremen Bewertungen neigen. Maximal können 20 Punkte vergeben werden. Bei Turnieren in Europa vergibt man meistens eine 10 oder 11, 12 oder gar 13 Punkte sind schon sehr gut, eine 8 ist extrem wenig. Unsere Kids dagegen vergeben schonmal gerne eine 18, wenn sie das gegnerische Team grundsätzlich fair fanden, und eine 3, wenn sie mit einigen Dingen unglücklich waren. Wir ändern allerdings nichts an den Punkten – so wie die Spiele ohne Schiedsrichter stattfinden, liegt auch die Bewertung des Gegners in den Händen der Spieler.

nach dem Spiel werden Punkte vergeben

Aber wir nutzen die anschließenden Trainings, um über die Spiele und deren Bewertung zu reflektieren. Besonders den jüngeren Kids fällt es schwer, das Verhalten des gesamten Teams über die ganze Spielzeit in den Blick zu nehmen; sie erinnern sich stattdessen oft an eine Situation und kommen auf Grund dieser Situation zu ihrem Urteil. Das Wertungssystem bietet also tolle Möglichkeiten, um den Blick zu weiten und die Reflexionsfähigkeit zu schärfen.

Wir komme nicht ohne Disziplinierung und Strafe aus

Ich will Konflikte und Probleme nicht verschweigen. Wo Menschen aufeinandertreffen, da kommt es unumgänglich zu Streit, das trifft erst recht auf Kinder und Jugendliche zu. Mein Ideal als Mensch, der aus einem westlichen Kulturraum stammt, ist es eigentlich, Konflikte auf Augenhöhe zu lösen. So versuche ich die Kinder und Jugendlichen immer wieder als Partner zu behandeln und an ihre Vernunft zu appellieren.

Aber ich muss mir eingestehen, dass die Ordnung innerhalb der jesidischen und kurdischen Gesellschaft extrem durch Hierarchie, Bestrafung (auch Schläge) und Beschämung – oder, um einen Pädagogen-Begriff zu gebrauchen, durch negative Aufmerksamkeit – hergestellt und erhalten wird. Die Kinder sind deshalb oft überfordert, wenn ich versuche, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, nehmen Sanktionen und Strafen dagegen überraschend selbstverständlich und widerspruchslos an.

ungewöhnlich: Kommunikation auf Augenhöhe

Besonders die Liga hat sich als geeignetes Sanktionsmittel erwiesen. Wer sich im Training nicht benimmt, der darf auch nicht beim Ligaspiel mitmachen. Das führt zu extremer Disziplin innerhalb aller Gruppen. Aber es bereitet mir etwas Bauchschmerzen, dass wir mit solchen Druckmitteln das Verhalten der Kids kontrollieren.

Deshalb versuche ich meine Mitarbeiter zumindest in kleinen Schritte an das Konzept der positiven Aufmerksamkeit und Verstärkung heranzuführen. Einer meiner Co-Trainer hat etwa die Angewohnheit, in dem Abschlusskreis nach dem Training nur über negative Ereignisse zu sprechen und einzelne Spieler zu rügen. Ich ermutige ihn dann, auch etwas Positives zu erwähnen.

der Abschlusskreis bietet viel Möglichkeit für Kritik und – noch besser – Lob

Mädchen spielen ohne Probleme mit

Beim Rückblick auf die Liga darf nicht unerwähnt bleiben, dass einige Mädchen dabei sind und immer mehr Mädchen zu den Trainings kommen. Das ist ungewöhnlicher, als der durchschnittliche europäische Leser denken mag. Auf den Plätzen, auf denen wir spielen, sind nämlich sonst nie Mädchen und Frauen zu sehen. So liberal der Nordirak im Vergleich zu anderen Ländern im Nahen Osten auch sein mag, Sport und besonders Fußball ist weiterhin eine absolute Männerdomäne.

Ultimate Frisbee bietet sich besonders dafür an, dass Mädchen und Jungs zusammen spielen, weil es ein Sport ohne Körperkontakt ist. Trotzdem war ich zu Beginn skeptisch und habe befürchtet, dass wir Probleme bekommen, wenn wir Mädchen integrieren.

Nach sechs Monaten Liga lässt sich feststellen: Nicht einmal hat sich ein Junge beschwert, dass er Mädchen in seinem Team hat. Kein einziges Mal habe ich von Beschwerden von Erwachsenen gehört. Dafür ist bei den älteren Teenagern das Team, das zu fast 50 Prozent aus Mädchen besteht, die erfolgreichste Mannschaft.

Mädchen sind wie selbstverständlich dabei

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