Mein erster Blogeintrag
Als ich vor einem Jahr wusste, dass es für mich als Entwicklungshelfer in den Nordirak gehen würde, habe ich auch diesen Blog aufgesetzt. Damals wusste ich aber noch nicht so recht, mit was ich ihn füllen würde – mit Reiseberichten vielleicht, oder mit kulturellen Beobachtungen? Klar war in jedem Fall, dass ich gerne ein anderes und vielfältigeres Bild des Iraks vermitteln will, eines, das nicht nur mit Krieg und Flucht zu tun hat.
Seit August 2020 wohne ich in der Stadt Dohuk und initiiere Sportprojekte. Als ich ankam, hatte ich einen Koffer voll Ideen für unterschiedliche Sportarten dabei. Fußball, so dachte ich, würde ich als Initialzündung nutzen, bevor ich andere und für das Land neue Sportarten wie Ultimate Frisbee einführen könnte. Von Anfang an aber wurden meine vorsichtigen Versuche, eine Frisbee-Scheibe hin- und herzuwerfen, allerseits mit Begeisterung aufgenommen.
Mittlerweile gibt es sieben Ultimate-Gruppen im Großraum Dohuk. Weitere Gruppen sind geplant. Damit hat sich auch ein Themenbereich für diesen Blog ergeben: Ich will über die Anfänge von Ultimate Frisbee im Irak berichten.
Das erste Match zwischen zwei Städten
Ich arbeite hier hauptsächlich mit Kindern und Teenagern, seit November gibt es aber auch ein Training für Erwachsene. Wir sind eine ganz bunte Truppe aus Expats (also Ausländern, die in Dohuk und den nahe gelegenen Flüchtlingscamps arbeiten) und einheimischen Kurden und Jesiden.
Ich hatte zwei Jahre Ultimate Frisbee in der Schweiz gespielt, ein paar der anderen Ausländer hatten auch schonmal eine Frisbee-Scheibe in der Hand; die meisten unserer Spieler, besonders die Einheimischen, wussten bis November allerdings noch nicht einmal, dass es soetwas wie eine Frisbee-Scheibe überhaupt gibt, geschweige denn den Sport Ultimate.
Seit November sind jedoch alle leidenschaftliche und schnell lernende Ultimate-Spieler. Ich bin besonders begeistert von zwei Einheimischen, die mir jeweils dreimal in der Woche bei der Durchführung von Kindertrainings helfen. Durch diese Arbeit und das regelmäßige Spielen haben sie sich innerhalb von nur wenigen Wochen zu sehr guten Spielern entwickelt – besonders ihre Vorhand wäre durchaus tauglich für ein Schweizer Meisterschaftsturnier.
Im Zuge diese Begeisterung kam der Gedanke auf, gegen ein anderes Team im Nordirak zu spielen. Und tatsächlich: In Erbil, der Hauptstadt des Nordiraks, gibt es eine Gruppe, die sich bereits seit zwei Jahren zu Trainings trifft. Mit ihnen war schnell ein Ort und Termin abgemacht: Am 13. Februar würden die Erbil-Spieler einen überdachten Sportplatz in Erbil mieten, wir aus Dohuk werden nach Erbil reisen und unser eigenes Können auf die Probe stellen.
Letzte Abmachungen vor dem Start
Für die 150 Kilometer lange Strecke bilden wir Fahrgemeinschaften. Ich sitze mit meinen beiden Co-Trainern im Auto. Die Aufregung und Vorfreude ist riesig. Neben dem anstehenden Match unterhalten wir uns viel über die Kindertrainings. Auch die Kids sind aufgeregt, dass wir als ihre Trainer gegen ein anderes Team spielen. Sie warten gespannt auf Nachricht aus Erbil.
Nach zweieinhalb Stunden Fahrt kommen wir an. Wir sind fast die Ersten auf dem Sportplatz. Es handelt sich um einen dieser im Nordirak so verbreiteten und überdachten Kunstrasenplätze. Sie sind alles andere als ideale Plätze für Ultimate Frisbee – bei Layouts zum Beispiel (also bei Sprüngen nach der Frisbee, bei denen man auf dem Bauch landet) verbrennt man sich schnell die Haut. Besseres ist hier allerdings nur schwer zu finden.
Langsam trudeln unsere Teamkollegen und die Spieler aus Erbil ein. Es folgen viele Handshakes und Highfives. Die Erbilgruppe wird von zwei Amerikanern, Dave und Liz, und von Bakri, einem Syrer, geleitet.
Mit ihnen bespreche ich die wichtigsten Details: Wir werden mit zwei Frauen und fünf Männern auf dem Platz spielen – Erbil hat nämlich nur drei Frauen, dafür aber 15 Männer im Kader; es wird zwei Halbzeiten á 30 Minuten geben, am Ende wollen wir uns nämlich Zeit für einen Spirit-Circle nehmen, also über das Spiel und besonders das Fairplay sprechen; Dave macht mich außerdem darauf Aufmerksam, dass einige ihrer Spieler noch recht unerfahren mit dem System der Selbstregulation, also dem Spielen ohne Schiedsrichter sind.
Das Gleiche gilt natürlich auch für uns aus Dohuk. Dave und ich sind uns einig: Wir wollen uns Zeit nehmen, um über strittige Szenen und unbekannte Regeln auf dem Platz zu sprechen. Der Tag heute ist in aller erster Linie eine Lernerfahrung für beide Seiten.
Los geht’s!
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde im Kreis geht es los. Erbil wirft die Scheibe zu uns herüber. Wir starten mit der Offensive, versuchen’s mit ganz basaler Strategie: Eine vertikale Stack in der Mitte des Feldes formen und von dort aus Cuts nach außen unternehmen. Aber schon der zweite Pass geht weit in Richtung Endzone und wird von einem Verteidiger abgefangen. Eine typische Anfängerschwäche: Viele, weite und schwer zu fangende Pässe in die Tiefe.
Also schnell Umschalten auf Defensive. Ich habe meinen Spielern versucht beizubringen, als Verteidiger die Rückhand zu blockieren und einen Vorhandwurf zu erzwingen. Und tatsächlich – es funktioniert! Der Pass eines Erbil-Spielers, der offensichtlich bisher selten den Vorhandwurf benutzt hat, landet auf dem Boden.
Unsere anschließende Offensive funktioniert, nach zwei Pässen steht es 1:0. Die erste Anspannung fällt von uns ab. Wir können tatsächlich mithalten!
Können wir vielleicht sogar gewinnen?
Im Anschluss wechseln sich Punktgewinne auf beiden Seiten ab. Erbil hat mit Dave einen sehr sicheren Handler, der die Scheibe nach vorne treibt. Dort warten dann einige wuchtige Männer, die zwar nicht die Schnellsten sind, dafür aber die Scheibe gut behaupten können. Wir dagegen haben athletischere Spieler und punkten mit Schnelligkeit.
Beide Seiten agieren insgesamt aber zu aufgeregt. Immer wieder wird die Frisbee-Scheibe recht blind nach vorne geworfen und von der Verteidigung abgefangen. Immerhin – wir können noch einmal mehr als Erbil einen Angriff abwehren, in einen eigenen Punkt umwandeln und gehen mit 5:3 in Führung. Euphorie macht sich breit – können wir heute vielleicht sogar gewinnen?
Müdigkeit und schlechte Stimmung
Gleichzeitig macht sich aber auch Müdigkeit bemerkbar. Wir sind insgesamt nur sechs Männer und vier Frauen, können also jeweils nur einen Mann auswechseln. Zusätzlich verletzt sich einer unserer Männer, als ihm einer der wuchtigen Spieler aus Versehen auf die Ferse tritt.
Außerdem schlägt die Stimmung um: Wir zeigen zweimal ein Foulspiel an, einmal punkten wir direkt im Anschluss. Das scheint einiger Erbil-Spieler nicht zu erfreuen. Als wir ein weiteres Mal das Spiel unterbrechen und ein Foul anzeigen wollen, will einer der Erbil-Spieler einfach weiterspielen. Das wiederum macht einen unserer Spieler wütend.
Der Gegner ist nicht dein Feind
Wir retten uns mit 8:7 in die Pause. Jetzt heißt es zehn Minuten Luft holen. Ich nutze die Gelegenheit, um mit meinen Spielern über Fairplay zu sprechen:
Dies ist ein idealer Moment, um ein Zeichen zu setzen. Mag die gegnerische Seite auch aufgebracht und wütend sein, wir wollen trotzdem nicht mit noch mehr Wut und Aufregung darauf reagieren. Ganz im Gegenteil: Egal, wie Erbil agiert, wir wollen fair spielen, eher den Vorteil des Gegners als den eigenen suchen und unter allen Umständen nach einem gelungenen Spiel trachten.
Das ist es, was ich meinen Sportgruppen generell versuche zu vermitteln:
Der Gegner ist nicht dein Feind. Und selbst, wenn er sich als Feind verhält – liebe deine Feinde!
Die Worte und Geschichten von Jesus bieten mir für die Vermittlung dieser Einstellung ideales Anschauungsmaterial.
Punkte und Euphorie
Aber auch taktisch scheint mir etwas besonders wichtig: Wir müssen weniger lange, dafür mehr kontrollierte, kurze Pässe spielen.
Wir starten mit neuem Mut, aber auch mit etwas Skepsis in die zweite Halbzeit: Unser angeschlagener Spieler will zwar nochmals versuchen zu spielen, aber selbst mit einem weiteren Auswechselspieler wird uns womöglich schon bald ganz die Puste ausgehen.
Trotzdem punkten wir direkt mit dem ersten Spielzug, 9:7. Anschließend können wir schnell den Angriff von Erbil abwehren und erneut punkten, 10:7. Das gelingt uns noch zweimal, schon bald steht es 12:7.
Wahnsinn! Die Euphorie beflügelt. Wir spielen jetzt richtig schöne Spielzüge, wie wir sie im Training geübt haben. Mehrmals befördern wir die Scheibe kontrolliert und mit drei bis vier Pässen über die Flügel in die Endzone. Ich bin stolz auf meine Leute – nach nur zweieinhalb Monaten Training bieten wir da gerade ein ziemlich ansehnliches Spiel ab.
Letzte Punkte
Es kommt noch zweimal zu strittigen Szenen und einer Spielunterbrechung. Diesmal klappt die Kommunikation aber besser. Ich weiß, dass die Coaches aus Erbil meine Einstellung zum Spiel teilen. Und auch den anderen unterstelle ich keine böse Absicht, sondern eher Unerfahrenheit in dem Spielen ohne Schiedsrichter.
Die positive Einstellung uns gegenüber wird besonders deutlich, als bei einem Punktgewinn von uns kräftig applaudiert wird. Das ist in der Folge noch ganze siebenmal der Fall, wir gehen mit 19:12 als Sieger vom Platz.
„Wir kommen stärker zurück“
Erschöpft, aber überglücklich liegen wir uns in den Armen. Wir haben tatsächlich nicht nur ein ordentliches Spiel abgeliefert – nach nur zwei Monaten Training – sondern sogar gewonnen.
Ehrlich gesagt hatte ich allerdings auch etwas Angst vor einem solchen Resultat. Mit einem Sieg geht nämlich immer auch eine gewisse Selbstzufriedenheit einher. Ich befürchte, dass sich innerhalb unseres Teams jetzt das Gefühl breit macht, wir müssten nicht mehr viel an unserem Spiel arbeiten.
Hilfreich ist es da, dass Erbil offensichtlich angestachelt ist, mehr an sich zu arbeiten. „Danke, Dohuk, dass ihr hierher gekommen seid und uns gezeigt hat, wie man ordentlich Ultimate spielt“, so lobt uns Bakri zum Schluss. „Wir werden hoffentlich als stärkeres Team zu euch nach Dohuk reisen.“
Das Rückspiel in Dohuk soll schon bald stattfinden. „Ihr seid herzlich eingeladen, uns in Dohuk zu besuchen“, gebe ich als Antwort zurück. „Dann werden wir ein kleines Stadion mieten und auch das erste Mal unsere Kinder-Teams gegeneinander spielen lassen.“
Fairplay für den Irak
Bis dahin werde ich in den Trainings besonders das Thema Fairplay, den Umgang mit Fouls und das generelle Spielen ohne Schiedsrichter thematisieren. Ich hoffe, dass der Sport Ultimate gerade in diesem Bereich ein Zeichen setzen kann: Mögen in den nächsten Jahren noch viele Menschen unterschiedlicher Nationen und Ethnien in diesem Land zwischen den Strömen zusammenkommen, sich sportlich messen und dabei als Freunde agieren, Vergebung, Demut und Rücksicht praktizieren.
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